Montag, 16. Mai 2022

NähFrauenReise - meine Eindrücke!

Ein herrliches, aber auch recht vollgepacktes Wochenende war das NähFrauenReise Wochenende vor einer Woche. Zwischen 22 und 24 Frauen aus Deutschland und Österreich haben sich in unterschiedlicher Konstellation (eine nur am Freitag Abend, andere Freitag und Samstag, andere nur Samstag, andere Freitag, Samstag Nachmittag und Sonntag und andere von Freitag bis Sonntag Spätnachmittag - jede, wie es ihr passte) in Frankfurt getroffen. Die Gruppengröße war optimal, um mit jeder irgendwie ins Gespräch zu kommen. Wie das auf solchen Treffen so ist, das gemeinsame Hobby dominiert die Gespräche, Alter und Beruf spielen keine Rolle. Einige Frauen kannte ich schon in "echt", andere aus Online-Nähtreffen, wieder andere von ihren Blogs und eher wenige von Instagram, da bin ich nicht so aktiv. Es ist schön, die vielen unterschiedlichen Interessen und Perspektiven, was das gemeinsame Hobby angeht, zu hören, die wunderschönen Kleidungsstücke anzuschauen, über Stoffqualitäten zu sprechen und alles, alles, alles, was mit dem Nähen zusammen hängt.

Ich habe das Treffen zusammen mit Sabine, Muriel und Claudia geplant. Dafür haben wir uns fast ein halbes Jahr regelmäßig online getroffen. In dem Planungsprozess waren auch die verschiedenen Themen, die jede Einzelne in die Treffen einbrachte, spannend. Anfangs hätte ich gesagt, Programm, Essen, Unterkunft sind wichtig, aber schnell kam Digitales dazu: Newsletter, Online-Formulare, Logo, eine Domain, ein Board, auf dem wir Arbeitsstände notierten, wir brauchten Namensschilder, organisierten den Sew-Along mit einem Link Tool. Im Laufe der Planung merkten wir, dass viele unserer Themen mit Nachhaltigkeit zu tun haben: das sollte sich dann durch das ganze Wochenende ziehen (vegetarisches Essen, das Namensschild aus festem Papier, kein Plastik, die Locations (da wusste ich immerhin, dass  Tsatsas als nachhaltig deklariert wird und auch Cocolores mit Stitch by Stitch in Deutschland und mit sauberen Materialien fertigt), am einfachsten war die Anreise, es kam tatsächlich niemand auf die Idee, mit dem Auto nach Frankfurt zu fahren. So entwickelten sich die Inhalte Woche um Woche weiter.

Die Aufgaben waren super aufgeteilt, die Schwerpunkte und Zuständigkeiten ergaben sich wie von selbst. Immer hat sich jemand gefunden, der freiwillig eine Liste tippt, einen Text schreibt, alles immer pünktlich und nie aufgeschoben. Wenn in jedem Projekt so toll zusammen gearbeitet würde, wäre manch ein Unternehmen sehr glücklich über seine Teams.

Bis auf ein Restaurant mit zwar leckerem Essen, aber "unterirdischem" Service, war ich zufrieden mit dem, was wir geplant hatten. Die Zeiten passten auch ganz gut, am Ende nach der gemeinsamen Fotoaktion vom Sew Along am Mainufer franste das Treffen ein wenig aus, wir hatten versäumt, eine klare Schlusszeit bekannt zu geben, aber aus allem, was nicht perfekt ist, lernt man ja.  Tatsächlich wäre eine kleine Begrüßung mit Vorstellungsrunde anfangs auch eine gute Idee gewesen, alle wohnten im ausgesuchten Hotel. So ist noch Luft nach oben. Die Teilnehmerinnen haben jedenfalls auf den Feedbackbögen mit viel Begeisterung reagiert, danke, es war wirklich auch von meiner/unserer Seite toll mit euch!

Zum Programm findet ihr Text und Fotos bei Muriel, außerdem einen Bericht bei Manuela.

Ich gehöre zu den Menschen, für die das Programm bei so einem Treffen elementar ist. Deswegen gehe ich jetzt etwas ausführlicher auf die Tsatsas Ausstellung im Ledermuseum ein. Mir blieben noch Fragen, weshalb ich letzten Sonntag an einer Führung mit den beiden Designern Esther und Dimitrios Tsatsas teilgenommen habe. Die Presse schildert die beiden als sehr zurückhaltende, ruhige, bescheidene Menschen. Beide waren in Schwarz gekleidet, mussten immer erstmal klären, wer was sagt, wirkten eher introvertiert, haben aber dann sehr deutlich und überzeugend ihre Standpunkte vertreten. Sie ist Architektin, er Industriedesigner, "aufgewachsen" in der Täschnerwerkstatt seines Vaters in Offenbach. Ihre Taschen sind kein Modeaccessoire, sondern langlebige Objekte, der Fokus liegt auf der zeitlosen Gestaltung ohne sichtbares Markenzeichen. Alles clean und geradlinig, ganz wenig sichtbare Nähte, was in der Taschenherstellung zu einer anderen Reihenfolge in den Arbeitsschritten führt und manchmal neu gedacht werden muss.

Die Haut der Rinder stammt aus guter Haltung (sonst wären auf der Haut sichtbare Narben), die Tiere werden für die Lebensmittelindustrie getötet, das Leder ist ein "Abfallprodukt". Versuche mit veganen Ersatzprodukten scheiterten bislang an der Haltbarkeit. Eine Tsatsas Tasche hält 20 Jahre (auch Garn, Metall), wenn mal etwas kaputt geht (einem Kunden, der eine Wassermelone transportiert hat, ist mal ein Griff gerissen), wird es in der Werkstatt repariert. Die Täschner lieben es, die genähte Tasche nach Jahren der Verwendung mit ihren Spuren zu sehen und wieder in Schuss zu bringen. Man merkte bei vielem, was erzählt wurde, dass es zwischen den Taschen, der Herstellung und dem Familienbetrieb eine emotionale Verbindung gibt. Die Taschen sind wie Babies, die nach einem langen Prozess der Gestaltung und Veränderung und Probetragens, ihren Namen erhalten und in den Verkauf gehen. Manchmal gibt es auch Taschen, die aus dem Programm genommen werden (müssen, da sie sich nicht so gut verkaufen), das fällt allen Beteiligten ganz schwer. 

Verarbeitungstechnisch sind die Taschen von allerbester Qualität, so die Einkäufer auf der Paris Fashion Week, Esther Tsatsas wusste gar nicht, ob sie das so sagen durfte, es klang ihr zu sehr nach Eigenlob. Dazu passt auch, dass in der Führung mit keinem Satz erwähnt wurde, dass Hillary Clinton im Präsidentschaftswahlkampf gegen Trump immer wieder mit einer Tasche von Tsatsas abgelichtet wurde. Das ging in Frankfurt durch die Presse und verursachte viel Wirbel, wurde aber nie weiter "ausgeschlachtet".

Vegane Ersatzprodukte halten manchmal nur 2 Jahre und dann muss Ersatz her. Langlebigkeit hat aus Tsatsas Sicht Priorität. Die ganze Ausstellung ist mit vielen Details aufwändig gestaltet. Sie soll nicht nur fertige Taschen zeigen, sondern den gesamten  Prozess vom ersten Gedanken, zufällige Veränderungen, Weiterentwicklung, Liegenlassen bis zur fertigen Tasche zeigen. Die Lederwaren sind teils wie Kunstobjekte präsentiert. Im Foyer gleich eine Vitrine mit teils zweifarbigen, teils einfarbigen Taschen aus dem Repertoire, rechts dunkelgrau, links hellgrau. Die mehrfarbigen Taschen sind Sonderanfertigungen.


Angefangen hat alles mit der auf den ersten Blick unscheinbaren Lucid, rechts unten im Bild. Zufällig entstand daraus während ein Teil der Tasche hing, das Modell Fluke, links unten im Bild. Dimitrios Tsatsas hat lange eine Tasche für sich selbst in den gängigen Geschäften gesucht, alle gut verarbeiteten hochwertigen Taschen waren altmodisch, rund und mit Schnallen, Firlefanz. Schlicht gestaltete, moderne Taschen wiederum aus minderwertigem Rohmaterial und nicht gut verarbeitet. So hat er über mehrere Jahre seine Tasche entwickelt und von seinem Vater nähen lassen, was nicht einfach war, denn da, wo üblicherweise 2 oder 3 Nähte sind, um Futter oder Reißverschluss einzufassen, wollte er nur eine Naht. Lucid (unten rechts) sieht erstmal aus wie ein klassischer Stoffbeutel mit Reißverschluss. Heute werden diese Beutel massenhaft getragen. Aber zum Zeitpunkt der Entwicklung vor 15 Jahren, war dies nicht der Fall. Es ist eine Herrentasche. Vielen Kunden wünschen sich bei Lucid und Fluke einen Schulterriemen, Versuche scheiterten, denn dann wird der unverwechselbare Fall gestört und die Tasche ist nicht mehr die, die sie sein soll.


Anhand der Tasche Tape ist der gesamte Prozess von erster Idee (komplett verworfen) über verschiedenen Größenmodelle bis hin zur fertigen Tasche (und zum Schlüsselband) gezeigt. Demnächst wird auch die Tape auf den Markt kommen, die nicht nur Clutch ist, sondern am Griff getragen werden kann (links in der Vitrine).



An dieser Wand sind exemplarisch 3 Taschen mit ihren Schnittmusterteilen gezeigt. Es wird auch klar, warum ein Portemonnaie fast genau so teuer wie eine Totebag ist, denn es besteht aus mehr Teilen und ist viel aufwändiger in der Fertigung. Das wissen alle, die schon mal ein Portemonnaie mit vielen Steckfächern genäht haben. Der Endkunde denkt oft, je kleiner, um so günstiger muss ein Produkt sein.


Nicht so gut erkennen kann man links oben das Modell Linden mit dem umlaufenden Reißverschluss. An den Seiten sind Keile eingearbeitet, so kann beim Öffnen nichts heraus fallen.

Leider nicht fotografiert habe ich die nagelneue Tasche Anvil, die nach einer Wolkenform benannt ist. In der Ausstellung schien sie mir sehr merkwürdig, aber ich habe gestern erfahren, sobald man etwas hinein packt, erweitert sich der Taschenkörper und die Tasche hängt wie eine Wolke an ihrer dünnen Kette. Interessant.

Anhand von Papiermodellen ist der aufwändige Prozess einer Handtaschengestaltung gezeigt. Länge, Breite, Gurtlänge, alle Proportionen sollen harmonisch miteinander in Verbindung stehen.


Kooperationen wurden mit David Chipperfield eingegangen, der brauchte eine luggage bag, daraus ist dann eine ganze Herrenkollektion entstanden.


Zusammen mit Raf Simons und Kvadrat entstand zum erstem Mal eine Kollektion von Fluke (und Saccar )Taschen in Kombination Leder und Textil, auch hier musste neu untersucht werden, wie sich die beiden Materialien miteinander verhalten und die Optik der Tasche verändern. 


Sämtliche eingesetzten Materialien sind langlebig, recycled, aus Deutschland (oder teils Italien), wenn es keinen passenden Beschlag gibt, unten sieht man die eingesetzten Materialien und Rohlinge.


Durch diese Ausstellung bin ich nochmal inspiriert worden, das Projekt Ledertasche nähen wieder aufzunehmen. Ich finde es nämlich auch schwierig, die perfekte Tasche zu finden. Meine Stofftaschen sind sowieso schäbig, die trage ich auch höchstens noch zum Einkaufen, die Kunstledertaschen verlieren langsam ihre Beschichtung und es wäre schön gewesen, wenn ich mir zumindest bei einigen Taschen, die ich wirklich sehr gemocht habe, mehr Mühe mit der Materialsuche gemacht hätte. Meine Nähmaschine schafft Leder, zum Glück. Schön wäre es jetzt natürlich auch, innen mit dünnem Futterleder zu füttern. Tatsächlich habe ich früher in Kauftaschen beobachtet, dass das textile Futter sich irgendwann auflöst (auch in meiner Lederjacke).

Vom Ledermuseum ging es zurück nach Frankfurt. Mittagspause mit Stoffkaufmöglichkeit. Am Nachmittag begrüßte uns Olivia Dahlem, die rückblickend betrachtet hinsichtlich Farbigkeit und Ausstrahlung (soll ich es jetzt Empowerment nennen?) das völlige Gegenteil der beiden zurückhaltenden Tsatsas Designer ist, im Quartier Frau bei Sekt und Häppchen. Ich kannte ihre Geschäftspartnerin Claudia Frick, die jetzt die (Flüchtlings-) Werktstatt Stitch by Stitch leitet aus meinen Schnittentwicklungskursen bei der Volkshochschule und wusste, dass sie unglaublich offen gegenüber allen Themen sind, die nähende Frauen interessieren könnten. Wir wollten wissen, wie ein kleines Label (Cocolores) arbeitet, von der ersten Idee, dem Moodboard,  über die Auswahl der Modelle, Stoffe, Farben, Mengen bis hin zum Verkauf. Dabei wurden Händlerquellen genannt und wir ermutigt, einfach selbst "frech" zu den Stoffmessen oder Fashion Weeks zu fahren. Enthusiastisch wurden die fertigen Kleidungsstücke gezeigt, mit Taschen, mit Paspeln innen versäubert, Streifen im Jerseykleid, ordentlich aneinander genäht, man spürte die Begeisterung über die eigene Marke, das eigene Tun und den Wunsch, Frauen dabei zu helfen, schöner und selbstbewusster zu werden. Katharina von Limo Wardrobe kam etwas verspätet, sie hat ein Start-up gegründet, das überwiegend Herrenhemden aus Überschussproduktion verarbeitet, die Kleidungsstücke manchmal mit Stoffresten kombiniert, Abfallvermeidung steht im Fokus und daraus tragbare, wertige Mode zu machen. Wir konnten uns im Showroom umsehen, auch Schuhe wurden anprobiert und viele Fragen gestellt. Für mich war die Diskussion um die Mode für Avatare völlig neu, hier wurde sehr kontrovers diskutiert. Ich habe mir noch keine abschließende Meinung gebildet. 


Zurück bleiben die Eindrücke an ein tolles Wochenende mit vielen Gesprächen, Informationen, Diskussionen, aber auch Pausen, Essen, Trinken. Dass die Pandemie noch nicht ganz vorbei ist, haben wir gemerkt, als eine Teilnehmerin sonntags morgens einen positiven Test meldete. Ich habe mich am Samstag Abend angesteckt, alles mit leichtem Verlauf, aber die Isolation war nicht schön und hat die Frage aufgeworfen, wann das Leben wieder "normal" wird. Es ist jedenfalls noch nicht normal, auch wenn es den Anschein hat.

Sommerliche Grüße, Anja



4 Kommentare:

  1. Ah, stimmt! Von der Veranstaltung hatte ich über zwei Ecken gehört, sie dann aber aus den Augen verloren. Danke für den Ausführlichen Bericht. Jetzt überlege ich gerade, wie ich deinen Blog per Mail-Benachrichtigung abonnieren kann? Liebe Grüße, Gabi

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    1. Das weiß ich leider auch nicht, ich bin ja bei blogger und lese die abonnierten Blogs in meiner Leseliste, würde auch ungerne Nachrichten dazu bekommen. LG Anja

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  2. Ich fand Euer Programm super, eine wirklich schöne Mischung. Die Führung hätte mich auch interessiert. Dank Dir fürs virtuelle Mitnehmen. Liebe Grüße Manuela
    P.S. Ich hoffe, Du hast die Infektion gut überstanden und es ist alles wieder in Ordnung.

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    1. Ja, habe ich, wenn ich auch noch etwas flachatmig bin und langsam mit Sport starte, schon ärgerlich, aber das Wochenende war toll. LG Anja

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